#1 Urbane Ko|Existenz
Das Zusammenspiel zahlreicher Arten wurde zum Ausgangspunkt unserer Feldstudien. Um ein dynamischeres Verständnis über die Beziehungsgeflechte in unserer Umwelt zu bekommen, widmen wir uns zunächst Bäumen im urbanen Raum. Als Mitbewohnende im städtischen Geschehen tragen sie nicht nur zu ökologischen, sondern auch zu sozialen Aspekten bei. Trotzdem werden sie meist nicht als Teilhabende berücksichtigt. Aber (wie) können wir Bedürfnisse und Perspektiven anderer Spezies überhaupt verstehen?
…being is always becoming, becoming is always becoming-with.1
Becoming-with and with-whom? Forschung zu more-than-human Perspektiven
mehr-als-menschlich? nicht-menschlich? multi-spezies? Innerhalb der Kulturanthropologie (und anderen Disziplinen, wie beispielsweise Soziologie, Architektur und Design, Rechtswissenschaften u.v.m….) wird die Ko-Existenz der Arten zunehmend in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt. Wissenschaftler:innen wie Thom van Dooren, Eben Kirskey und Ursula Münster (obiges Zitat) untersuchen dabei die entanglements – also die Daseins-Verwobenheiten – verschiedener Arten.2 Sie berücksichtigen, dass wir als Menschen nicht isoliert existieren und handeln.
Einer der wichtigsten Impulse für mehr-als-menschliche Forschungsansätze kam vom Soziologen und Philosophen Bruno Latour. Sein Buch “Wir sind nie modern gewesen” (1995) kritisiert das dominierende Verständnis von Natur und Kultur als getrennte, gegensätzliche Einheiten und die daraus folgende separierte Betrachtung von Gesellschaft, Natur, oder Technik.3 Nach Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (2007) sind nicht nur Menschen, sondern auch andere Lebewesen sowie Objekte und Technologien Teil des sozialen Lebens und mit Handlungsmacht ausgestattet. Handeln ist stets das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Entitäten in einem relationalen Netzwerk.4
Mittlerweile ist der Begriff der NaturenKulturen, der u.a. auf Latour zurück geht (ebenso auf Donna Haraway und ihre Ausführungen zu “Naturecultures”), zu einem wichtigen Forschungsparadigma geworden. Mit ihm werden “Verflechtungen, Fusionen und zirkulierende Praktiken zwischen Natur und Kultur” erkennbar und beschreibbar. Gleichzeitig bricht er mit Vorstellungen von einer universellen, von Kultur unabhängigen Natur.5
Den Blick auf Gesundheit zu erweitern, indem wir nicht nur Menschen, sondern auch andere Arten einbeziehen, birgt Herausforderungen: Wie können wir uns multi-spezies Perspektiven annähern und andere Wissensformen anerkennen? Wie können wir beispielsweise das Innenleben einer Pflanze verstehen? Und vor allem: Wie können wir in Kontakt treten, ohne zu vermenschlichen? Wie re-präsentieren wir, ohne dieselbe Sprache zu sprechen? Das sind Fragen, die auch die kulturanthropologischen Debatten prägen. In Dialog zu treten bedeutet aber vielleicht nicht, im wörtlichen Sinne dieselbe Sprache zu sprechen, sondern aktives Zuhören herauszufordern und empathische Verbindungen zu schaffen.
#2 Ver|care|te Wälder
Wälder wecken viele Assoziationen. Sehnsucht und Zuflucht, Ruhe und Entspannung, Abenteuer und Mystik. Sie sind Inspirationsquelle für Literatur und Kunst und stehen zugleich für Anpassungsstrategien, Evolution oder die Vielfalt der Arten. Inmitten der Spannungen zwischen Pflege, Nutzung, Ausbeutung und “in Ruhe lassen” (Rewilding), beschäftigen wir uns in diesem Feld mit Perspektivwechseln auf Gesundheit. Indem wir Care in den Mittelpunkt stellen und um eine mehr-als-menschliche Sichtweise erweitern, können wir uns fragen, kümmern sich Wälder eigentlich um uns?
..care is everything that is done (…) to maintain, continue and repair „the world“ so that all (rather than „we“) can live in it as well as possible.6
More-than-human Care als erweiterte feministische Perspektive
Maria Puig de la Bellacasa greift hier auf ein Zitat der Politikwissenschaftlerin Joan Tronto zurück.7 Im feministischen Diskurs ist der Begriff Care von zentraler Bedeutung. Zum einen, um auf die Teilung produktiver und re-produktiver Arbeit aufmerksam zu machen und naturalisierte, geschlechtsspezifische Ungleichheiten zu verdeutlichen. Zum anderen, um gerechtere Strukturen zu schaffen, Care-Verantwortlichkeiten anzuerkennen und zu verteilen.
Nach Tronto beschränkt sich Care deshalb nicht nur auf persönliche, individuelle und emphatische Handlungen, sondern beinhaltet auch die Gestaltung von Politik, Institutionen und sozialen Strukturen. Care umfasst damit alle Handlungen, eine gerechtere und fürsorglichere Gesellschaft herzustellen, um ein möglichst gutes (“as-well-as-possible”) Leben für alle zu ermöglichen.
Ohne diese wichtigen Diskurse in den Hintergrund zu rücken, sondern um sich feministischen Forderungen und Praktiken vielmehr anzuschließen, erweitert Bellacasa diese Ethik der Sorge um de-anthropozentrische Perspektiven.
Die Frage nach einem möglichst guten Leben für alle wird dabei aber nicht normativ aufgefasst und abschließend beantwortet. Stattdessen wird sie in einem Spannungsverhältnis als spekulative Praxis stets weiter ausgehandelt.
Care auf mehr-als-menschliche Akteur:innen auszudehnen, macht Care-Praktiken nicht zu einer weniger menschlichen Angelegenheit, schließt aber weitere Perspektiven mit ein. Ausgehend von einer Ko-Existenz mit nicht-menschlichen Akteuren wie beispielsweise Wäldern, werden deshalb die bestehenden Abhängigkeiten innerhalb dieses Netzwerks verdeutlicht.8
More-than-human Care bietet damit die Möglichkeit, die Existenzen nicht nur als eine Verflechtung des Seins, Wissens, Handelns, Beeinflussens, oder Austauschens mit anderen Arten zu betrachten, sondern auch für diese Gefüge Sorge zu tragen. Diese de-anthropozentrische Linse kann wiederum helfen, sozio-ökologische Konflikte komplexer zu betrachten und die Perspektiven von more-than-human Akteur:innen in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen.
#3 Planetare Gesundheit|who cares?
Die menschliche Interaktion mit der Umwelt ist vielfältig und weitreichend. Der Verlust von Biodiversität, Luft- und Umweltverschmutzung und durch den Klimawandel bedingte Katastrophen stehen in engem Zusammenhang mit menschlichen Aktivitäten. Unser Planet ist nicht gesund.
Der Begriff Anthropozän bringt diesen menschlichen Einfluss und seine Folgen zum Ausdruck und stellt uns vor die Herausforderung, Verantwortung für diese Spuren zu übernehmen. Können wir für den Planeten Sorge tragen? Und welche Zukunft möchten wir mit unserer Gegenwart schaffen?
The Anthropocene is a planetary phenomenon—but not a uniform one.9
Überlegungen zum Begriff des Anthropozäns
Anna Tsing betont, dass der Begriff Anthropozän zu einem kollektiven Bewusstsein beiträgt, Verantwortung für menschliche Aktivitäten und ihre Folgen zu übernehmen.
Trotzdem ist der Begriff nicht perfekt. Deshalb prägen die kulturanthropologischen Debatten um das Anthropozän ergänzende Begriffe wie Kapitalozän, Plantagenozän oder – noch komplizierter – Chthuluzän.10 Schließlich stellt sich die Frage, mit welchen Begriffen Erzählungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerahmt und beschrieben werden.
Ohne den Menschen universell zu adressieren und die Folgen auf die Umwelt oder die soziale Ordnung als anthropogenen Speziesakt zu begreifen, werden im Kapitalozän oder Plantagenozän historische und systemische Zusammenhänge in den Vordergrund gestellt. Den Fokus auf kapitalistisches Wirtschaften zu legen, deckt dessen Begleiterscheinungen auf: Ökologische Grenzen werden überschritten und soziale Ungerechtigkeiten vertieft. Die Bedingungen der Plantagenwirtschaft betonen wiederum den ausbeuterischen Modus der Agrikultur, insbesondere seit dem transatlantischen Sklavenhandel, Kolonialismus, sowie dessen Kontinuitäten. Zerstörung, Disziplinierung, Unterdrückung und Enteignung werden dabei zur inter-spezies Erfahrung, die Pflanzen- und Tierwelten, Böden und Menschen inkludiert.11
Die Zusammenhänge und Entanglements von NaturenKulturen haben in Bezug auf Gesundheit und Care auch eine planetare Dimension. Die Art und Weise wie Gesundheit stabilisiert beziehungsweise destabilisiert wird, ist aber nicht „uniform“, sondern die ökologischen und sozio-politischen Auswirkungen unterscheiden sich. Um die Facetten des Anthropozäns besser zu verstehen, müssen wir anschließend an Anna Tsing deshalb auch lokale Geschehnisse untersuchen und dokumentieren.12 2023 wurden nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch global die heißesten jemals gemessenen Temperaturen verzeichnet. Hitze stellt speziesübergreifend eine gesundheitliche Bedrohung dar. Darüber hinaus zeigt sich ein zukünftiger Trend zunehmender Klimaerwärmung und Extremwetterereignisse. In diesem Sommer haben wir in München Aspekte solcher Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben beobachtet.
We – all of us on Terra – live in disturbing times, mixed-up times, troubling and turbid times. […] Our task is to make trouble, to stir up potent response to devastating events, as well as to settle troubled waters and rebuild quiet places.13
Staying with the trouble
Den ökologischen Fragen der Zeit können wir nicht mit Desinteresse begegnen. Wir müssen unsere „response-ability“ nutzen: die Möglichkeit zu reagieren, Verantwortung zu übernehmen, zu caren. „Unruhig bleiben“, fordert Donna Haraway mit ihrem Buch „Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthuluzähn“ (2016). Sie will dazu ermutigen, dass wir uns den ökologischen Fragen annähern und überlegen, wie ein Zusammenleben speziesübergreifend, auf einem Planeten, der den Anforderungen seiner „Earthlings“ gewachsen ist, gestaltet werden kann. Zu lernen, Andere mit-zudenken, bleibt ein fortschreitender und offener Prozess.14
Wie können wir ein as-well-as-possible zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen und in einem mehr-als-menschlichen Netzwerk herstellen? Und wie können wir spekulative Neuausrichtungen schaffen – ohne dabei lediglich in Idealbilder oder Utopien zu verfallen?
Nach Haraway reicht ein einzelner Begriff nicht aus, um zu beschreiben, was in dieser Zeitepoche passiert. Deshalb formuliert sie mit dem Chtuhluzän eine neue Perspektive, in der etablierte Denkmuster und kulturelle Vorstellungen hinterfragt werden. Um Natur nicht als etwas Abgetrenntes, Beherrschbares zu betrachten, werden die Geschichten im Chthuluzän multipliziert. „Niemand lebt überall; jeder lebt irgendwo. Nichts ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden.“15
Für den Planeten, für multiple Spezies und uns selbst Sorge zu tragen ist ein komplexer Prozess und schließt Kontroversen mit ein. Ko-existieren bleibt geprägt von unterschiedlichen Machtverhältnissen, Bedürfnissen, Meinungen und Forderungen. Ob durch Kunst, Aktion, Emotion, Vernetzung, Diskussion, Fiktion, oder Expertise – Sich Kümmern kann unterschiedlich praktiziert werden. „Taking care“ kann heißen, unterschiedliche Bedürfnisse zu verstehen, diese antagonistisch auszuhandeln, Verantwortung zu übernehmen sowie sich für umfassende Rechte im Sinne eines solidarischen Miteinanders innerhalb unserer multi-spezies Netzwerke einzusetzen. Wandel braucht solidarische Zusammenschlüsse. Ko-existiert euch!
- van Dooren, Thom; Kirskey, Eben; Münster, Ursula 2016 ↩︎
- Das Konzept der “entanglements” im multi-spezies-Kontext wurde geprägt von Donna Haraway. Siehe dazu “A Cyborg Manifesto” (1985) und “When species meet” (2007) ↩︎
- Latour 1995 ↩︎
- Latour 2007 ↩︎
- Gesing, F., Knecht, M., Flitner, M., & Amelang, K. (2019): 7f. ↩︎
- Puig de la Bellacasa 2017 ↩︎
- Original Zitat: “caring [is to be] viewed as a species activity that includes everything that we do to maintain, continue, and repair our ‘world’ so that we can live in it as well as possible. That world includes our bodies, our selves, and our environment, all of which we seek to interweave in a complex, life-sustaining web.” Tronto 1993: 103 ↩︎
- Puig de la Bellacasa 2017 ↩︎
- Tsing, Deger, Saxena, Zhou 2021 ↩︎
- siehe hierzu u.a. die Reflektionen von Haraway, Tsing 2019. Gibts auch zum Anhören als Podcast https://edgeeffects.net/haraway-tsing-plantationocene/ ↩︎
- Haraway, Tsing 2019: 5f ↩︎
- Anna Tsing et al. (2021) haben mit dem Feral Atlas einen multimodalen Beitrag dazu geleistet: https://feralatlas.supdigital.org/?cd=true&bdtext=introduction-to-feral-atlas ↩︎
- Haraway 2016: 1 ↩︎
- Haraway 2018: 75 ↩︎
- Haraway 2018: 48 ↩︎
Das vollständige Literaturverzeichnis ist auf unserer Creditseite zu finden.